Wir fordern heute für fast alles Transparenz: Transparenz der Politik,Transparenz der Wirtschaft,
transparente Kommunikation – selbst Schweizer Bankkonten hätten wir gerne transparenter – Und
schnell sind wir dann mit dem Satz bei der Hand: „Aber das ist doch nur oberflächlich – tatsächlich
liegen die Dinge ja ganz anders.“ Vielleicht – ja. Es ist jedoch gar nicht so einfach, die Oberfläche
der Dinge zu sehen. Anders gesagt: Es ist gar nicht so einfach, einfach zu sehen.
Wenn Transparenz nun für uns Sichtbarkeit bedeutet, (wie) lässt sich Transparenz selbst sichtbar machen?
Genau danach fragt die Kunst von Angelika Jelich und sie macht uns darauf aufmerksam, dass
Transparenz bei der Wahrnehmung der Oberfläche beginnt, ja beginnen muss. Nur über die
Wahrnehmung der Oberfläche erschließt sich mir Schicht für Schicht, Ebene für Ebene. Nur so
kann ich verstehen, wie die eine Ebene die andere durchdringt, sie überlagert und unterlegt.


Wie eine Oberfläche aussieht, hängt nun wesentlich vom Lichteinfall ab. Sonnenlicht trifft auf eine
Fassade und für einen Moment verändert sich die Farbe. Licht fällt durch ein Fenster und zeichnet
farbige Muster auf Boden und Wände, Gegenstände werfen ihre Schatten; künstliches Licht von
Reklametafeln, Verkehrssignalen oder Leuchtschriften spiegelt sich in der Luft und legt sich wie ein
beweglicher Farbfilm über Häuser, Straßen, Plätze und Passanten. Einzelnes tritt vor und zurück,
Gegenstände scheinen nah und dann wieder entfernt, Grenzen bilden sich heraus und verschwinden,
Schattenfugen und Zwischenräume öffnen und schließen sich wieder.


Solche Rhytmisierungen der Oberflächen durch farbiges Licht, wie wir sie wahrnehmen können,
wenn wir durch die Stadt gehen, an Schaufenstern entlang oder eine Häuserwand hinaufblicken,
oder auch umgekehrt wenn wir etwa durch die halbgeöffneten Jalousien eines Fensters auf die
Straße schauen, interessieren die Malerin Jelich. Sie studiert und sammelt diese Eindrücke – nicht
zuletzt in New York, wo die Künstlerin ihre zweite Heimat hat – und sie verarbeitet und deutet sie
künstlerisch. Indem sie Versatzstücke aus Fotografien, Filmplakaten oder Werbung digital und zeichnerisch
bearbeitet, neu miteinander kombiniert und dann mit farbigen Folien in vielen verschiedenen
Schichten übereinander legt – und bisweilen in einem letzten Schritt noch einmal von Hand
hineinarbeitet – entstehen leuchtende, plakative Bilder von großer Intensität und zugleich von hoher
Fragilität – transparente Bilder; sie selbst nennt sie „Transparencies“.


Die Transparencies lassen unseren Blick in immer neue Ebenen vordringen, ohne dass wir die eine
als Hinter- oder Untergrund von der anderen trennen können. Anders als in traditionellen,
perspektivisch aufgebauten Bildern gibt es hier keinen „Raum als Behälter der Dinge“, keinen
Hintergrund für das Motiv, sondern beides erscheint wechselseitig durchlässig.
Helle Farbpartien holen das Motiv nah heran, zeichnen es klar und akzentuiert, dunkle Bereiche
erzeugen dagegen Vertiefungen und unbestimmte Schattenzonen. So wirken die Bilder trotz ihres
letztlich streng flächenparallelen Aufbaus nicht plan, sondern eher verhalten bewegt und bewegend
wie die Erinnerung an einen Film, eine Fotografie oder eine Begegnung.
Und auch im übertragenen Sinne bleibt der Hintergrund in Jelichs Bildern offen. Ist das ein
bekanntes Model, das Gesicht einer bestimmten Werbung? In welchem Verhältnis stehen die wie
aus Zeitungen ausgeschnittenen Wörter, die ihr Gesicht rahmen, zum Bild? Sind sie Kommentar,
und wenn ja, welcher Art? Sind die junge Frau und der telefonierende Mann Teil vielleicht einer
berühmten Filmszene, kennen wir den Film? Oder sind sie von der Künstlerin aus unterschiedlichen
Zusammenhängen einfach in einem neuen Bild zusammengeführt?
Die ästhetische Qualität der Arbeiten liegt darin, dass sie einerseits solche Projektionen erlauben, ja
dazu verführen, indem sie unser populärkulturelles Gedächtnis gezielt anregen, dass sie andererseits
sich jedoch nicht darin erschöpfen. Sie bleiben erzählerisch offen, sie bleiben inhaltlich durchlässig,
und sie lenken so unser Interesse immer wieder zurück auf die Art und Weise der künstlerischen
Montage.


In einer weiteren zu den Transparencies zählenden Werkgruppe bilden nicht Menschen sondern
florale Motive den Gegenstand des Bildes. Kontrastiert mit giftiggrünen und violetten Farbfolien,
die sich wie das Negativ eines Farbfilms über die in in Acrylglas gefassten Schwarzweißfotografien
legen, entstehen Dioramen exotischer Fundstücke. Die Pflanzen werden zu ornamentalen Zeichen
einer fremdartigen, einer künstlichen Natur. Während die Transparencies im weitesten Sinne urbane Phänomene, also Erscheinungen unserer
städtischen Lebenswelt reflektieren, geht es in den von Jelich so genannten „Ritzbildern“ um unsere
Erfahrungen mit der natürlichen Umwelt. Die ästhetische Anmutung dieser Leinwandbilder ist denn
auch eine völlig andere. Dort sind es nicht die glatten Oberflächen von Lichtphänomenen, sondern
haptische Oberflächen von geschichteter Farbe, in die von Hand regelmäßige Muster aus
elementaren Formen wie Kreisen, Rauten oder Blüten eingeritzt sind. In den Transparencies der leuchtende Klang von Metropolen, in den Ritzbildern die leise Schwingung langsamer Wachstums- und Ordnungsprozesse. In den Transparencies die Signalfarben der Moderne, in den Ritzbildern die
Mischfarben der Natur.
Es sind beides Sinnbilder – fast so etwas wie Pole – unserer Zivilisation, Bilder, in denen ihre
Oberflächen sichtbar werden.


© Wendt 2013

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